Frauenhäuser warnen vor „lebensgefährlichen Zuständen“

Frauenhäuser sind Schutzräume für akut von Gewalt bedrohte Frauen und Kinder. Sie bereiten schwer traumatisierte Menschen auf ein Leben frei vom Täter vor. Kurzgefasst ist ihre Aufgabe: Frauenleben retten. In der Corona-Krise hat der rot-rot-grüne Senat ihre Rolle besonders betont, er hat auch zwei Hotels angemietet, um noch mehr Plätze zu schaffen. Doch Berliner Frauenhäuser warnen jetzt: Die Senatsgesundheitsverwaltung übe so hohen Druck auf sie aus, dass die Gesundheit der Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen auf dem Spiel stehe. „Lebensgefährlich“, nennt die Leiterin eines Hauses die geforderten Belegungszahlen.

Die sechs Berliner Frauenhäuser werden von unterschiedlichen Trägern geleitet: der Caritas sowie den fünf Vereinen Bora, Hestia, Cocon, der Interkulturellen Initiative und dem „Frauenselbsthilfe – Frauen gegen Gewalt an Frauen und Mädchen e.V.“ Die Träger sind von der Senatsgesundheitsverwaltung abhängig, werden von ihr finanziert – und sind schon immer massiv unterfinanziert.

Der chronische Mangel hat schon lange dramatische Folgen. Keines der Häuser ist nachts besetzt. Ab circa 18 Uhr müssen die Mitarbeiterinnen die zum Teil schwer traumatisierten und stark bedrohten Frauen sich selbst überlassen. Nachtdienste, Sicherheitsleute vor der Tür? Nicht vorgesehen im Stellenplan. In manchen Häusern übernehmen die Bewohnerinnen nachts sogar den Bereitschaftsdienst am Telefon.

Corona hat die ohnehin bestehenden Probleme extrem verschärft. Allerdings nicht, weil die Fallzahlen dramatisch gestiegen seien, sagen die Frauenhäuser. Sondern weil die Senatsgesundheitsverwaltung von ihnen – trotz Pandemieplänen, Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen – eine 100-prozentige Auslastung fordere. Das Team eines Frauenhauses hat am Mittwoch deswegen einen Brandbrief an die frauenpolitischen Sprecher der SPD, Linken, Grünen, CDU und FDP geschrieben. „Überall ist Corona, nur in den Frauenhäusern nicht“ lautet die Überschrift.

In der begleitenden E-Mail – beides liegt der Berliner Zeitung vor – heißt es: „Aufgrund von großer Sorge vor weiteren Repressalien durch die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung haben sich leider nicht alle Berliner Frauenhäuser diesem Brief anschließen können und auch wir möchten aus demselben Grund nicht namentlich in Erscheinung treten.“

Die Berliner Zeitung hat alle Berliner Frauenhäuser angeschrieben. Drei von ihnen haben sich zurückgemeldet. Sie alle bestätigen die Grundprobleme, manche Häuser leiden mehr unter ihnen als andere. Alle wollen anonym bleiben – sie befürchten, dass die Senatsgesundheitsverwaltung ihnen Mittel streicht. Damit sei, auch bei nur geringer Kritik, schon häufig gedroht worden.

Das größte Problem: „Die Senatsverwaltung will, dass wir gerade alle Betten belegen“, sagt die Leiterin eines Hauses. Das habe man aber schon vor Corona nicht gemacht – die Zimmer seien zu klein, maximal geeignet für eine Frau und ihre Kinder, nicht aber für zwei Frauen. Jetzt aber, in der Corona-Krise, gehe das auf keinen Fall. Das habe man der Gesundheitsverwaltung auch mitgeteilt. Doch: „Es gibt großen Druck vom Senat, sie trotzdem zu belegen.“ Man weigere sich bisher standhaft, das sei aber sehr aufreibend. 

Ein anderes Frauenhaus konnte sich nur mithilfe des bezirklichen Gesundheitsamts gegen die Forderung nach Vollbelegung stemmen. Das habe Nerven und eigentlich nicht vorhandene Ressourcen gekostet, erzählt die Leiterin. Doch die Forderung stehe weiter im Raum. „Das muss schnell vom Tisch“, sagt sie. Wie die anderen fürchtet sie eine zweite Infektionswelle im Herbst.

Manche Häuser sind zusätzlich von starkem Personalmangel betroffen – weil viele Mitarbeiterinnen zu Risikogruppen zählen oder die Kita-Betreuung noch immer nicht stabil läuft. Die wenigen Mitarbeiterinnen, die durch enormes Engagement die gesamte Mehrarbeit geschultert hätten, „klappen mir jetzt weg“, berichtet die Leiterin eines dritten Hauses. „Die können einfach nicht mehr.“

Die Auswirkungen auf die Betreuung seien extrem, man habe kaum noch Zeit, sich um die stark belasteten Bewohnerinnen zu kümmern. „Wir spielen hier aber kein Tetris“, sagt sie fassungslos. „Das sind gewaltbetroffene Frauen, die Qualität unserer Arbeit ist entscheidend.“

Auslöser für die Krise sind laut den Frauenhaus-Trägern neben der 100-Prozent-Forderung auch mehrere Systemumstellungen, die die Senatsgesundheitsverwaltung vorgenommen hat. Mit den extra angemieteten Hotels, von denen derzeit nur eines belegt ist, habe die Verwaltung einen ganz neuen Player ins so empfindliche System gebracht. Jetzt sollen fast alle Frauen zuerst im Hotel untergebracht und erst danach auf die Frauenhäuser verteilt werden.

Das Hotel sei aber nur mit einer, maximal zwei Personen pro Schicht besetzt, berichten die Frauenhäuser. „Die wollen die Frauen schnellstmöglich los werden.“ Ob die unterschiedlich arbeitenden Häuser überhaupt den Bedarf der mehrfach belasteten Frauen decken könnten, spiele dabei keine Rolle mehr. In Häuser, die keine Kinderbetreuung anbieten, würden jetzt Frauen vermittelt, die mehrere Kinder mitbringen und tief in einer psychischen Krise steckten. Manche Frauen schrien die ganze Nacht, berichten Mitarbeiterinnen, eine Gemeinschaftsunterkunft sei für sie eigentlich gar nicht geeignet. „Diese Frauen haben multikomplexe Problemlagen, das wird jetzt vollkommen ignoriert.“

Im für die Verteilung nun zentralen Hotel blieben wegen der mangelnden Besetzung außerdem die wichtigsten Aufgaben auf der Strecke. Dokumente blieben unbearbeitet, Krankenkassen würden nicht kontaktiert. Mehrfach habe man bei der Aufnahme Krankenhausplätze für hochschwangere Frauen und ihre Kinder organisieren müssen, wenige Tage vor dem Geburtstermin - obwohl die Frauen zuvor bereits wochenlang im Hotel untergebracht waren.

Auch hier hat die Liste der Probleme noch kein Ende. Man habe die Verwaltung lange um Pandemiepläne für die Sammelunterkünfte gebeten. Aus der Feder von Experten der Verwaltung, als Richtlinie für alle Häuser. Man habe schließlich sogar Beispiele aus anderen Bundesländern eingeschickt und wenigstens um Feedback gebeten, ob sie als Vorbild sinnvoll seien. Passiert sei: nichts. Die Pandemiepläne für die Frauenhäuser hätten die darin völlig unerfahrenen Leitungen selbst entwerfen müssen – weil die Gesundheitsverwaltung sie nach Wochen des Nichtstuns von ihnen einforderte.

Auch nach Schutzkleidung, Mundschutzen und Desinfektionsmittel habe man gefragt, als vieles ausverkauft war – und aus der Verwaltung die Antwort erhalten: „Stellen Sie sich bei Kaufland an.“

Immer und immer wieder werde die Arbeit auf die Häuser abgewälzt. Man habe die mannigfaltigen Probleme mehrfach bei der Senatsgesundheitsverwaltung adressiert, sagt eine der Chefinnen. Die aber reagiere nur mit immer mehr Druck. Der Ton sei dabei rau und unfreundlich, fast schon „gewaltvoll“. 

Nach dem Brandbrief der Mitarbeiterinnen wage man jetzt den Schritt an die Medien. „Wir werden mit allem alleingelassen, aber tragen für alles die Verantwortung“, sagt sie. „Das muss jetzt enden.“

Die Gesundheitsverwaltung teilte der Berliner Zeitung am Mittwoch mit, dass die Auslastung der Frauenhäuser seit Beginn des neuen Verteilverfahrens im Durchschnitt zwischen 70 bis 80 Prozent liege, „nur vereinzelt höher“. Auch hierbei geht die Verwaltung aber von einer 100 Prozent möglichen Belegung aus. 

Die neuen Prozedere seien mit „allen Frauenhäusern abgestimmt“, schreibt die Gesundheitsverwaltung. Kein freies Zimmer solle ungenutzt bleiben, Frauen nicht unnötig auf Hilfe warten müssen. Doppeltbelegungen gebe es seit Beginn der Corona-Krise nicht. Ob man sie dennoch von den Frauenhäusern fordere? „Richtig ist, dass seitens der Senatsverwaltung darauf gedrungen wurde, bei Zimmersperrungen aus anderen Gründen wie beispielsweise Rohrverstopfungen schnellstmöglich Abhilfe zu schaffen, damit möglichst viele reguläre Schutzplätze zur Verfügung stehen.“

Drei Frauenhäuser beschreiben das übereinstimmend anders. Die Mitarbeiterinnen, die den Mut hatten, den Brandbrief zu schreiben, haben dabei fast dieselbe Mängelliste wie die Chefinnen. Einen wichtigen Punkt aber betonen sie darüber hinaus: Die Zeit reiche in personell ausgezehrten Häusern für nichts mehr – auch nicht für die „Feststellung der Eigen- oder Fremdgefährdung“ der Frauen. Die hoch gefährdeten Frauen zu beraten, zu beobachten und so Kontakte zum Gewalttäter zu verhindern, ist eine ihrer ureigensten Aufgaben. Die Mitarbeiterinnen warnen: „Die eigentliche Idee des Frauenhauses als Safe Space vor häuslicher Gewalt ist so entschieden bedroht.“

Berliner Zeitung, 17. Juni 2020, online hier