„Das ist kein Rumänenhaus“

Der Mann am Zaun ist wütend. Er sticht beim Reden mit seinem Zeigefinger in die Luft, ein Jutebeutel mit leeren Flaschen baumelt an seinem Arm. Es sind zwei. Und das ist kein Zufall. Er hat die Flaschen abgezählt, rationiert. Damit er noch welche übrig hat, um später noch mal runterzugehen. 

Der Gang zur Altglastonne ist für ihn sein Ticket in die Freiheit. Seit mehr als einer Woche steht der Häuserkomplex an der Harzer Straße, in dem er wohnt, wegen eines Corona-Ausbruchs unter Quarantäne. Mehr als sieben Hausnummern gehören dazu und mindestens doppelt so viele Hausaufgänge. Alle Bewohner müssen in ihren Wohnungen bleiben. Die letzten verbliebenen Bürgerrechte sind: Post holen, sich die Beine im großen Innenhof vertreten. Und: Flaschen und Müll runterbringen. 

Wie ein großes L laufen die Wohnblöcke die Harzer Straße und dann über Eck die Treptower Straße entlang. Jedes Haus mit einer eigenen Nummer ist in seiner eigenen Farbe gestrichen. Grau, weiß, blau, beige. Die Gebäude verzweigen sich nach hinten weiter. An fast jedem Klingelschild wird neben dem Vorderhaus auch noch ein Quergebäude und ein Hinterhaus ausgewiesen.

Die Gegend galt mal als sozialer Brennpunkt, an dem vor allem Roma-Familien lebten. Viele Menschen gepfercht auf engem Raum, von dubiosen Geschäftemachern geleitet – der Neuköllner Gesundheitsstadtrat hat diesen schlechten Ruf erst vor einigen Tagen wieder betont. Dabei war das vor mehr als zehn Jahren, klagt der Mann am Zaun. Seither hat eine katholische Wohnungsgesellschaft den Block übernommen, die Häuser saniert. Die Gegend habe sich stark verändert, sagt er. Die Roma seien bürgerliche Leute, gut integriert. Er selbst, gebürtiger Neuköllner, 52 Jahre alt, lebt seit fünf Jahren in einem der Single-Apartments. 40 Quadratmeter groß, modern hergerichtet, weit entfernt von einem Albtraum, sagt er.

Es ist Sonnabendnachmittag, Tag acht der Quarantäne. Die Haustüren zu den Gebäuden werden nicht bewacht, manche sind nur angelehnt. Auf Aushängen des Bezirksamts Neukölln steht: „ALLE HAUSHALTE in diesem HAUS stehen vollständig BIS ZUM 26.06.2020 unter QUARANTÄNE! Um die Coronavirus-Infektion aufzuhalten, MÜSSEN Sie in Ihren Wohnungen bleiben. Sie dürfen NICHT arbeiten gehen und KINDER dürfen NICHT in die Schule oder Kita gehen.“ Die Zettel, erzählen Bewohner, sind schon zum Souvenir für „Corona-Touristen“ geworden. Die Menschen laufen heimlich in die Hausflure hinein, um sie von den Wänden zu reißen.

Der Mann am Zaun hat Respekt vor dem Virus, ist gerne bereit, zwei Wochen zu Hause bleiben – „wenn es denn helfen würde“, sagt er. Er bezweifelt es. Und zählt so lange Fehler der Behörden, der Hausverwaltung und der Medien allein in der vergangenen Woche auf, bis sich seine hellblaue OP-Maske über Mund und Nase dunkel färbt von der Feuchtigkeit.

Chaos und Antiziganismus hätten die Behörden über sein Zuhause und seine Nachbarn gebracht, so lässt es sich zusammenfassen. „Das sind keine Anfängerfehler mehr, das ist Bullshit“, sagt er laut. Er lebe nicht in einem „Rumänenhaus“ und auch nicht in einer „Mietskaserne“. Er deutet auf die Fassade, an der das Gesicht von Arnold Fortuin prangt, einem NS-Widerstandskämpfer, der im Dritten Reich Hunderte von Roma und Sinti vor dem Tod rettete.

„Ja, hier leben Roma“, sagt er. Aber die Bewohnerschaft sei ganz gemischt: Italiener, Polen, Deutsche. „Neuköllner eben.“ Nur lasse die Bezirkspolitik diese Neuköllner ausgerechnet jetzt, in der Not, vollkommen im Stich. Mehr noch: Sie werfe sie, und besonders die ohnehin stark stigmatisierten Roma, der Öffentlichkeit zum Fraß vor.

Tatsächlich stellt sich beim Blick auf die Zahlen die Frage, warum Neukölln so sehr im Fokus steht. Berlin verzeichnet wieder eine steigende Zahl von Neuinfektionen. 552 waren es von Sonnabend, den 14., bis Sonnabend, den 21. Juni. Nicht nur Neukölln ist betroffen. In Mitte, Charlottenburg-Wilmersdorf und Friedrichshain-Kreuzberg werden an vielen Tagen sogar mehr Infektionen vermeldet als hier. Komplett unter Quarantäne gesetzt aber wurden, beginnend mit dem vermeintlichen Roma-Block, nur Wohngebäude in Nordneukölln.

Mit dem Shutdown der großen Häuserblöcke im Harzer Kiez hat der Bezirk einen grundlegenden Strategiewechsel im Umgang mit Neuinfektionen vollzogen – und der Senat gleich mit. Die Quarantänemaßnahme wird nicht mehr begründet mit dem individuellen Testergebnis oder den Kontakten der Betroffenen. Es trifft viele hier alleine deswegen, weil sie wohnen, wo sie wohnen. „Sozialräumliche Eindämmungsstrategie“ nennt das Bezirksamt das.

Der rot-rot-grüne Senat betont seit Beginn der Corona-Krise immer wieder seine Sorge um die Folgen der Isolation für Gruppen, die ohnehin am Rand der Gesellschaft stehen. Aber nun, da diese Sorge wirklich angebracht wäre, ist davon nichts mehr zu hören. Am Sonnabend, 13. Juni, wurde das Haus unter Quarantäne gesetzt. Am 16. Juni tagte der Senat. Man habe über die Entscheidung des Bezirks diskutiert, erklärte Innensenator Andreas Geisel (SPD) im Anschluss knapp, und sei zu dem Schluss gekommen: Man heiße das Vorgehen des Bezirksamts explizit gut. „Das war eine richtige, notwendige Entscheidung.“

Die Folgen dieser Entscheidung spürt auch der Mann, der maßgeblich für sie verantwortlich ist: Neuköllns Gesundheitsstadtrat Falko Liecke, CDU-Politiker durch und durch, ein „Law and Order“-Mann, so beschreibt er sich auch selbst. Noch nie habe er so viele Beschwerden wegen Rassismus erhalten, erzählt er erschöpft.

Liecke empfängt in der Blaschkoallee 32, im Neuköllner Pandemiezentrum, gut vier Kilometer entfernt vom Harzer Kiez. 120 Mitarbeiter schwirren von hier aus in Dreierteams mit Testkits in die betroffenen Viertel aus, tippen Daten in Computer ein. Fünf Bundeswehrsoldaten in Uniform helfen inzwischen mit.

Man wolle das Virus da stoppen, wo es sich am stärksten verbreite, sagt Liecke. Deswegen habe man nicht die Schulen geschlossen, an denen die ersten Kinder aus dem Harzer Kiez positiv getestet wurden, sondern die Wohnblöcke ihrer Familien. Das sei auch eine Frage der Abwägung. Damit man nicht bis zu 15.000 Menschen verteilt über den ganzen Bezirk ihrer Kinderbetreuung beraubt. Quarantäne für wenige, damit so viele wie möglich Normalität genießen können. Das ist das Prinzip.

Liecke sagt, die Betroffenen stammten aus einer „Community“, seien nun einmal bildungsfern. In einer Drei-Zimmer-Wohnung lebten bis zu zehn Menschen. Manche der Erwachsenen könnten nicht lesen und schreiben, die Testteams müssten über Dolmetscher oder die älteren Kinder kommunizieren. Die Infektionswege nachzuvollziehen sei mühselig, man sei dabei voll auf die Kooperation der Betroffenen angewiesen. Deren Misstrauen gegen die Behörden aber sei groß. „Das sind einfach Fakten, das muss man sagen dürfen“, sagt Liecke etwas hilflos. Epidemiologisch sei das äußerst relevant.

Die Fakten allerdings haben sich in den letzten Wochen gewandelt. Denn das Virus verbreitet sich schnell. Waren zu Anfang tatsächlich ausschließlich eine Handvoll rumänischer Familien betroffen, stehen inzwischen insgesamt sieben Standorte in Nordneukölln unter Quarantäne, auch über den großen Komplex an der Harzer/Treptower Straße hinaus. Das Bezirksamt nennt die Gesamtzahl der Menschen in Quarantäne nicht, will eigentlich auch die Standorte geheim halten. Insgesamt stünden 369 Haushalte unter Quarantäne, sie seien jeweils „ein bis zehn Personen“ groß. Eine denkbar ungenaue Angabe: Die Zahl der Betroffenen kann also von 369 bis 3690 schwanken. Positiv getestet worden seien bisher 94 Menschen. 41 davon seien Kinder.

Ob die 94 bestätigten Infizierten denn nach wie vor aus der „rumänischen Community“ kommen?

Das sei schwer zu sagen, gibt Liecke zu, die Lage sei unübersichtlich. Es seien Rumänen, Bulgaren, aber auch Türken und Deutsche unter den Infizierten. Liecke überlegt, diskutiert kurz mit seinem „obersten Gesundheitsaufseher“, so nennt er den Mann, der alle Tests plant. Dann formuliert er es so: Die „südosteuropäische Community“ sei besonders betroffen.

Es klingt alles ziemlich vage. Auch für andere Spekulationen fehlen Belege. So lässt sich noch immer nicht sagen, ob das Virus tatsächlich in Gottesdiensten der christlichen Pfingstgemeinde verbreitet wurde, der auch viele Roma angehören. Man höre das immer wieder von anderen Bewohnern, erklärt Liecke. Mehrere Mitglieder der Gemeinde seien erkrankt. Doch er hebt die Hände, Handflächen nach oben. „Wir können es nicht sagen, die Menschen sprechen nicht mit uns.“

In den ersten Tagen nach der Quarantäne-Entscheidung wurde der Häuserblock von Journalisten belagert. Versorgt mit den Informationen des Gesundheitsamts wurden einige Geschichten über zu enge Wohnungen und Großfamilien geschrieben. Die Roma im Haus ärgert das. „Hier ist alles in Ordnung“, sagt einer, der mit Freunden in einer Ecke des Hinterhofs sitzt. Er zeigt auf den Abstand zum Stuhl seines Nachbarn: 1,5 Meter, mindestens. „Die Presse ist das Problem“, sagt er. „Die schreiben nur Scheiße: Wir sind Zigeuner, wir sind dreckig.“ Ein anderer ruft auf Rumänisch: „Das Virus hat keine Nationalität!“ Es ist viel Vertrauen zerbrochen hier in den letzten Tagen.

Das gilt nicht nur für die Roma, sondern auch für die anderen Bewohner in den Wohnblöcken an der Harzer Straße. Für sie sind nicht die Roma das Problem – sondern die Kommunikation des Gesundheitsamts. In kleinen Kreisen treffen sich Anwohner vor der Haustür, beraten – auf Abstand und mit Mundschutz –, was da gerade mit ihnen passiert. Am Sonnabend stehen sie zu sechst zusammen, reden auf Englisch und Deutsch miteinander.

„Was ist hier die Strategie?“, fragt eine 30-jährige Programmiererin, die aus Polen stammt. „Wann hört das auf?“ Sie trägt Leoparden-Mundschutz und klingt nicht wütend, eher ratlos. Bisher hat das Bezirksamt, das bestätigen alle in der Runde, sie nicht ein einziges Mal richtig informiert. Am Sonnabend, dem 13. Juni, wurden Zettel an den Türen verteilt, mit den wichtigsten Quarantäne-Regeln – aber nur an jene, die auch zu Hause waren. Die Aushänge an den Haustüren wurden am Dienstag, Tag vier der Quarantäne, aufgehängt. Seitdem hat niemand mehr mit ihnen gesprochen. Dabei, das verstehen viele nicht, seien die ersten großen Tests in den Häusern bereits am 4. Juni durchgeführt worden – ebenfalls ohne Vorwarnung und ohne jede Information über die Gründe. Doch auch jetzt, zweieinhalb Wochen später, seien noch nicht alle Bewohner durchgetestet worden. „Bei mir war noch niemand“, sagt ein Mann mit Brille, der gerade seinen Hund ausführt. Die Postboten liefen weiter ins Haus, die Müllabfuhr komme weiter ohne Mundschutz. 

Es klingt nach Chaos und so, als könnte eine zum Schutz geplante Maßnahme am Ende womöglich das Gegenteil bewirken: Bewohner werden auf viel zu engem Raum eingesperrt in ein Haus mit Infizierten. Die Infektionsgefahr steigt, egal, wie sehr sich alle an die Regeln halten. Der wütende 52-Jährige sagt: „Die wollen die Menschen hier durchseuchen. Warum sonst hilft man uns denn nicht?“

Berliner Zeitung, 21. Juni 2020, online hier