90 Minuten Normalität

Heute ist eigentlich nicht Lieselotte Broschs Tag. Seit gestern sitzt sie im Rollstuhl, sie hat eine Blockade im rechten Bein. „Das gefällt mir gar nicht“, sagt die 59-Jährige. Vorher konnte sie als einzige Bewohnerin des Porzer Hospizes noch mit Rollator durch die Gänge tippeln. Liebend gern ließ sie die Gehhilfe entgegen aller Warnungen der Schwestern sogar ganz weg. Ob die Blockade wieder verschwinden wird? Lieselotte Brosch wiegt den Kopf. „Ich weiß es nicht, ich hoffe nur.“

 

Brosch trägt zum Deutschlandspiel Schwarz-Rot-Gold auf ihren weichen Wangen, ein weißer Fan-Schal ist um ihren Hals geknotet. Gerade nippt sie an einer Gulaschsuppe. „Lecker“, sagt sie. „Das hat die Frau Brosch gut gemacht.“ An Tagen wie diesen darf sie das Essen für alle aussuchen.

 

Nur ein anderer Bewohner des Hospizes konnte zum Spiel kommen. Sprechen kann er nicht mehr, doch seine Ehefrau positioniert ihn in einem großen, elektrischen Rollstuhl so vorm Fernseher, dass er optimale Sicht hat. Die vier übrigen Patienten liegen im Dämmerschlaf auf ihren Zimmern. Dafür füllen zwei Schwestern und vier ehrenamtliche Mitarbeiterinnen den Fernsehraum. Sie diskutieren angeregt darüber, ob Götze aussieht wie ein Supermodel und wie viele Kilo Klinsmann in den letzten Jahren wohl zugelegt hat. Lieselotte Brosch hört aufmerksam zu, den Kopf ein wenig nach hinten gelegt und lächelt.



Die 59-Jährige liebt die WM. Denn jedes Spiel bedeutet 90 Minuten Auszeit, 90 Minuten Normalität – und 90 Minuten neue Erinnerungen. Erinnerungen, die immer wertvoller für sie werden. Denn wenn Brosch heute Termine vereinbart, sagt sie freudig zu, warnt aber höflich: „Man weiß nie, was passiert.“ Sie meint damit: Vielleicht kann ich doch nicht. Vielleicht lebe ich dann nicht mehr.

 

Es kann schnell gehen im Hospiz. Manche der Bewohner sterben Wochen, andere nur Stunden, nachdem sie angekommen sind. Acht Monate zu bleiben, so wie Brosch, ist selten.

 

Sechs Jahre Odyssee, von Krankenhaus zu Krankenhaus, von Therapie zu Therapie liegen hinter Lieselotte Brosch, seitdem sie 2008 die Diagnose Brustkrebs erhielt. Da war sie 53 Jahre alt. Es folgt ein Leben im Schatten der Nebenwirkungen, geprägt von Müdigkeit, Übelkeit, Gelenkschmerzen, Brüchen und dem Gefühl, nie genug Luft zu bekommen. Doch ihr Kampf ist vergeblich. Im Oktober 2013 stellen die Ärzte fest, dass der Krebs gewandert ist. Jetzt sitzt er in ihren Knochen. „Austherapiert“, so beschreibt Brosch ihren Zustand. Verwundert, nicht verbittert, fügt sie hinzu: „Wie die Ärzte das so schön nennen.“ Es ist ein Todesurteil ohne festen Termin. Bleiben ihr noch Wochen, Monate? Die Ärzte können es nicht sagen – und Brosch will es nicht wissen. Sie hat nur noch einen Wunsch: keine Therapien, keine Krankenhäuser mehr.

 

Doch als sie die Diagnose erhält, kann sie sich nicht mehr alleine versorgen. Sie ist allein. Zu ihrem Ex-Mann hat sie jeden Kontakt abgebrochen. Pflegeheim oder Hospiz sind die einzigen Möglichkeiten, die ihr bleiben. Die Angst vor dem, was ihr bevorsteht, ist noch da, als sie die Schwelle des hellgelb-gestrichenen Hauses am Rand von Porz übertritt.

 

Heute ist von dieser Angst nichts mehr zu spüren. „Ja, genau!“, ruft Lieselotte Brosch, als Müller endlich zum 1:0 trifft. Zum ersten Mal klappert sie mit den schwarz-rot-goldenen Händen aus Kunststoff, die vor ihr liegen. Als der TV-Moderator kurz darauf davon spricht, dass das US-Team eine Wiederbelebung gut gebrauchen könne, lacht sie auf: „Ha, Wiederbelebung!“ Hospiz-Humor.

 

Lieselotte Brosch hat hier wieder gelernt, zu leben – nicht angefangen, zu sterben. Sie bastelt, stickt und malt zum ersten Mal. Ihr Porträt eines Eisbären werden die Schwestern im Gemeinschaftsraum aufhängen. „Im Wohnzimmer“, wie Brosch sagt. Schon das zeigt: Das Hospiz ist mehr für sie als die Endhaltestelle ihres Lebens. „Es ist jetzt mein Zuhause.“

 

Als treuem FC-Fan haben die Schwestern ihr vor Monaten einen Stadion-Besuch ermöglicht. Ihren ersten überhaupt. „Ich konnte auf das Spielfeld spucken, so nah war ich dran“, sagt sie stolz. „Da sind bei mir die Tränen gekullert!“

 

Als Expertin zieht sie früh Parallelen zwischen ihrem Lieblingsverein und der Nationalelf. „Die schießen beide die Tore erst in der zweiten Halbzeit“, hat sie zu Spielbeginn prophezeit. Sie sollte recht behalten. Und ist nach dem Abpfiff eine strenge Richterin: Mittelmäßig sei die Leistung gewesen. „Da fehlte Pep, vor allem dem Poldi.“

 

Annika Leister (Text) und Stefan Worring (Bilder)