Wenn von diesem Montag an „Maskenmänner und Maskenfrauen“ das öffentliche Bild dominierten, werde die Stimmung kippen. So zumindest warnte der Autor des Leitartikels, der am Sonnabend in der Berliner Zeitung erschien, vor der Maskenpflicht in Bus und Bahn, insgesamt vor den Maßnahmen der Politik in der Krise. Sie agiere irrational. An Krebs und Alkoholismus stürben schließlich mehr Menschen als an Corona.
Ein düsteres Bild. Ich beobachte in Berlin und Deutschland jedoch das Gegenteil.
Die Politik erlässt zurzeit Verordnungen, die unsere Rechte tief beschneiden. Und sie macht dabei Fehler, ohne Frage. Ihre Maßnahmen aber sollen Leben retten. Sie sollen schwerste gesellschaftliche Traumata wie in Italien verhindern, wo Ärzte weinend vor Kameras zusammenbrechen, weil ihnen die Patienten unter den Händen wegsterben. Corona ist eben nicht wie Krebs oder Alkoholismus. Corona greift das System Mensch in neuer perfider Weise auf allen Ebenen an.
Die deutsche Politik handelt im Kampf gegen das Virus nach dem Grundsatz: Ein Leben ist ein Leben. Alt oder jung, Risikogruppe oder nicht – alle sollen überleben, in der Krise gleichbehandelt werden, so gut es eben geht. Die Politik lässt sich beraten von Wissenschaftlern aller Sparten, die abwägen, streiten und um die gesamtgesellschaftlich beste Lösung ringen. Bundes- wie Landesregierungen lassen sich mehrheitlich leiten von Vernunft, ihr primäres Ziel ist der Gesundheitsschutz. Das ist eine demokratische Selbstverständlichkeit. Mit Blick auf Länder wie die USA, Brasilien oder Ungarn, wo Staatschefs weiter den eigenen Erfolg priorisieren, bin ich dennoch oft erleichtert. Ja, dankbar.
Viele der neuen Bürgerpflichten kann die Polizei dabei gar nicht kontrollieren. Wie auch? Soll sie mit dem Zollstock die Abstände zwischen 3,7 Millionen Berlinern messen?
Gerade die zur Eindämmung zentralen Kontakt- und Abstandsregeln, auch die Maskenpflicht, sind deswegen weniger als Ver- oder Gebote zu verstehen. Sie sind Appelle an den mündigen Bürger. Flehentliche Bitten, sich jetzt von allen Gewohnheiten, Eitelkeiten und vielen Freiheiten zu lösen, über die unsere Gesellschaft sich bisher definiert. Zu akzeptieren, dass wir bis zur Entdeckung eines Impfstoffes in vielen Monaten nur auf Sparflamme miteinander leben können. Sich radikal umzustellen, schnell anzupassen, auch an neue Erkenntnisse. Nicht Panik und Egoismus, sondern Vernunft, Gemeinsinn, Verständnis walten zu lassen. Der mündige, gut informierte Bürger ist jetzt – noch vor Pflegern, Ärzten und Kassiererinnen – systemrelevant.
Wir müssen aktiv und kreativ werden. Je schneller wir neue Regeln für unser Zusammenleben finden und sie verinnerlichen, desto schneller können wir die Wirtschaft zum Teil wieder hochfahren. Dennoch werden manche Branchen noch Monate lang nicht arbeiten können. Gerade jene, die ohnehin in schlecht bezahlten Jobs und zu kleinen Wohnungen stecken, werden leiden.
Die Politik muss helfen, so umfangreich und unkonventionell wie nie zuvor. Aber auch jeder von uns trägt Verantwortung: Jede geminderte Miete, jedes nicht zurückverlangte Eintrittsgeld, jedes nicht gehamsterte Klopapier hilft. Wir spüren stärker denn je: Demokratie ist Arbeit, Freiheit bedeutet nicht Egoismus.
Das ist wahnsinnig viel verlangt und schwer zu verstehen. Auch, weil ja keine Bomben auf Berlin hageln, weil die Intensivstationen noch nicht überbelegt sind, weil wir uns allein präventiv einschränken. Allen, die die Zusammenhänge begreifen und den Luxus genießen, nicht um ihre Existenz bangen zu müssen, kommt deswegen besondere Verantwortung zu: Populismus und Panikmache verbieten sich. Stattdessen brauchen jene Forum und Unterstützung, die die Krise besonders trifft. Viele haben das verstanden. Dass die Stimmung kippt, sehe ich nicht.
Ist das alles zu viel verlangt? Ich finde nicht. Ab morgen werde ich Maske tragen und Abstand halten. Die Maske wird nerven, ich werde Freunde und Festivals schmerzlich vermissen. Aber vielleicht erspare ich so einigen Menschen Mühen, Krankheit, Tod. Das ist eine ziemlich einfache Rechnung.
Berliner Zeitung, Leitartikel, online erschienen am 26. April 2020