Die Stimme des Vorbeters erfüllt klagend die Halle des jüdischen Friedhofs am Scholzplatz. Durch ein Fenster mit einem eingelassenem Davidstern fällt Licht in den Raum, auf den schmucklosen Holzsarg, der mit schwarzem Tuch verdeckt ist. Darin liegt Herbert Shenkman, Holocaust-Überlebender, der nach schwerer Krankheit am Sonntag gestorben ist. An diesem Freitag wäre sein 96. Geburtstag.
Es ist eine besondere Beerdigung. Denn schätzungsweise die Hälfte der Gäste kennen Shenkman überhaupt nicht. Sie sind gekommen, um am Ende eines Lebens, das gänzlich vom erlebten Grauen in den Konzentrationslagern bestimmt wurde, Solidarität zu zeigen und ein letztes Zeichen zu setzen: Nie wieder.
Gefolgt sind sie der Bitte von Gabi Shenkman. Die 68-Jährige befürchtete, dass niemand zur Beerdigung kommen würde. Die 30-köpfige Familie ihres Mannes wurde in den Konzentrationslagern fast vollkommen ausgelöscht, nur seine Mutter und ein Onkel überlebten. Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu halten fiel ihm zeitlebens schwer, lieber vergrub er sich in seinen Büchern. In den letzten Jahren war er schwer krank, kaum noch er selbst, mit starken Schmerzen ans Bett gefesselt, so entfielen auch die Besuche in der Synagoge. Seine wenigen engen Freunde, wie der langjährige Berliner Rabbiner Ernst Stein, hatte er mit 95 bereits überlebt.
Nicht einmal die für einen jüdischen Gottesdienst geforderte Mindestanzahl von zehn Männern würde sie zusammenbekommen, fürchtete Gabi Shenkman. Und postete deswegen den Termin der Trauerfeier mit wenigen Sätzen auf Facebook: „Ich wäre dankbar, wenn einige von euch kommen würden.“ Elio Adler, Vorstand des jüdischen Vereins Werteinitiative, teilte den Post mit den Worten „Das darf nicht sein!“, erklärte, dass Shenkman Holocaust-Überlebender sei, und bat um rege Teilnahme. Innerhalb von zwei Tagen wurde der Post auf Facebook und Twitter tausendfach geliked.
Am Ende sind es 30 Menschen, die am Freitagmittag den Weg nach Charlottenburg-Wilmersdorf finden. Nicht viele. Doch Gabi Shenkman ist erleichtert: „Es sind doch ein paar gekommen“, sagt sie, bevor sie die Halle betritt. „Gott sei Dank.“ Manche haben sich, wie ein 33-jähriger evangelischer Theologe in der vorletzten Reihe, für die Beerdigung extra freigenommen. Sie lauschen nun der Lebensgeschichte Shenkmans.
Es ist ein Leben, das die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte dokumentiert und die Enttäuschung vieler Juden über den Umgang der Deutschen mit diesen Kapiteln. Es ist keine Geschichte von Wiedergutmachung und Hoffnung, von glänzenden Symbolen, wie sie die deutsche Politik so gerne erzählt. Sondern eine des stillen, lebenslangen Leidens an den unvorstellbaren Taten der Nazis und der Deutschen.
Shenkman wurde 1923 im nordrhein-westfälischen Hagen geboren. Sein Vater hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und war früh an den Folgen einer Kriegsverletzung gestorben. Die Mutter, Tante und die Großeltern zogen Shenkman groß. Die Realschule durfte der Junge noch einige Jahre besuchen, bereits 1938 aber verbaten die Nazis jüdischen Kindern den Schulbesuch. 1942 – da war Shenkman 19 Jahre alt – erhielt die Familie den Befehl zur Deportation, wurde enteignet und mit mehr als 1100 anderen Juden in einen Zug in Richtung Ghetto Theresienstadt gesetzt und von dort aus zum Teil nach Auschwitz, zum Teil nach Buchenwald gebracht.
Es gibt ein Youtube-Video, das Herbert Shenkman 2008 bei einer Gedenkveranstaltung in Berlin zeigt. Er ist kein gefälliger Redner, fast alles liest er vom Blatt ab, nur an einen wenigen Stellen, die er besonders betonen will, blickt er ernst ins Publikum: „Insgesamt, von diesen 1160 Personen, überlebten 117 die Deportation“, sagt er. Den Horror, das Unvorstellbare, versucht er gar nicht erst zu beschreiben. Er lässt Zahlen sprechen.
Shenkmans Großeltern verhungern innerhalb kürzester Zeit, die Tante wird in Auschwitz ermordet. Shenkman selbst gibt sich als Schlosser aus, obwohl er es nicht ist und wird zur Zwangsarbeit in einem Außenlager in Buchenwald eingeteilt, zur Produktion von Panzerfäusten für die Wehrmacht. Als die Nazis die Inhaftierten in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs zu Todesmärschen zusammentreiben, flieht er, wird dabei von SS-Schergen in den Rücken geschossen und für tot gehalten. Doch Shenkman lebt. Er wird gefunden und in ein Krankenhaus gebracht.
Aber Deutschland will er nicht mehr seine Heimat nennen. Er will raus aus dem Land, dessen Menschen seine Familie gemeuchelt haben. 1949 emigriert er in die USA, arbeitet dort als Handelsvertreter, verkauft Bürsten an Haustüren. Abends holt er erst seinen Schulabschluss nach, studiert dann Theologie und Psychologie. Schon da beginnt er, Holocaust-Überlebende zu interviewen. Teile seiner Arbeit lagern heute in der Bibliothek der Universität Stanford.
Er heiratet und bekommt einen Sohn. Die Ehe zerbricht Anfang der 80er-Jahre – auch, so glaubt Gabi Shenkman – weil die jüdisch-amerikanische Familie, in die er einheiratete, die von ihm erlebte Grausamkeit nicht begreifen, nichts darüber hören will.
Doch diese Grausamkeit und der Versuch, ihren Ursprung zu verstehen, bestimmen Shenkmans Leben. Sein ganzes Leben lang forscht er zu Antisemitismus, hinterlässt eine Bibliothek von mehr als 10.000 Büchern. „Er war ein Weiser“, sagt Sigmount Königsberg, Antisemitismus-Beauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Einer, der immer gewusst und klar kritisiert habe: Der Antisemitismus ist mit den Nazis nicht aus Deutschland verschwunden.
1986 kehrt Shenkman zurück nach Deutschland, weil er näher bei seiner Mutter sein will. Im selben Jahr lernt er seine zweite Frau kennen – bei einer Veranstaltung über Antisemitismus. Sie sitzen zufällig nebeneinander, kommen ins Gespräch, gehen noch am selben Abend miteinander essen. Er habe charmant und witzig sein können, sagt Gabi Shenkman, deswegen habe sie sich in ihn verliebt. Doch die Lager hätten ihn vernichtet, sein Leben hätte er danach nie mehr genießen können.
Bis ins hohe Alter plagten ihn Alpträume, nachts wachte er oft schreiend auf. „Wie fast alle, die Auschwitz überlebten", sagt Gabi Shenkman. Am schlimmsten seien die Nächte gewesen, wenn sich wieder ein Jahrestag näherte: der Tag an dem die Großmutter verhungerte, an dem die Tante hingerichtet wurde, der Tag der Befreiung.
Und immer wieder enttäuschte Nachkriegsdeutschland ihn: Bei einem Besuch im Hagener Rathaus wird ausgerechnet er gefragt, ob es nicht schade sei, dass der Bürgermeister aus Nazi-Zeiten nicht wie die anderen Bürgermeister mit Foto an der Wand verewigt sei. Eben jener Mann, der die Deportationen anordnete. „Diese Frage an mich!“, schreibt Shenkman an einer Stelle. „Ich hatte den Eindruck, in ein Nazi-Nest zu kommen…“
Kurz vor der Wende, erinnert sich Gabi Shenkman, fuhr das Paar zu einem Treffen Überlebender nach Buchenwald und machte dabei Halt an den Baracken, in denen Shenkman Zwangsarbeit verrichten musste. Sie waren gestrichen und renoviert worden, inzwischen ganz normale Mietshäuser. Eine ältere Frau sprach das Paar unvermittelt an, fragte, ob es denn wisse, wozu die Häuser früher genutzt wurden. Shenkman antwortete: Ja, er wisse das. Er habe früher darin leben müssen. Er sei Jude. Die Frau habe das Paar enttäuscht angeblickt: „Ach? Sie sehen doch so nett aus."
Shenkman wollte das ändern, zumindest der jungen Generation wollte er sein Wissen vermitteln. Vor allem in seiner Heimatstadt Hagen trat er immer wieder an Schulen als Zeitzeuge auf. Manchmal pendelte er mehrfach im Monat von Berlin ins Ruhrgebiet. In seinen Vorträgen war er schonungslos, erklärte auch, welche der Schüler von den Nazis ins Konzentrationslager gesteckt worden wären und warum: Migrationshintergrund, Homosexualität, körperliche Einschränkungen. Shenkman versuchte, den Schülern die Willkür und die Brutalität des Nazi-Regimes klarzumachen - und rüttelte so mit aller Kraft an ihrer Empathie.
Auf dem jüdischen Friedhof wird gegen 13 Uhr Herbert Shenkmans Sarg in die Erde gelassen. Drei Schaufeln Erde wirft jeder Besucher hinein. Die feuchte Erde prallt dumpf auf dem Sarg auf.
Auch Elio Adler verabschiedet sich. Er fürchtet die Zeit, in der es keine Zeitzeugen wie Herbert Shenkman mehr geben wird. Sie sind für ihn der Grund, warum in Europa schon so lange Frieden herrscht, sagt Adler. „Die Welt ist durch Herbert Shenkmans Tod ein wenig unsicherer geworden.“