Marcos Stimme am Telefon ist voller Verachtung, wenn er über seinen Pflegevater Fritz H. spricht: „Psychoterror und Gewalt, das war sein Ding“, sagt er. „Ein richtiges Dreckschwein.“
Fritz H. misshandelte, missbrauchte und vergewaltigte Marco – der wie alle anderen in diesem Text genannten Opfer anders heißt – und seinen Pflegebruder Sven in seiner Wohnung in Friedenau von frühster Kindheit an, bis die Jungen circa 14 Jahre alt waren – und all das unter der Zuständigkeit des Jugendamts Schöneberg. Das sagen Marco und Sven, das bestreitet die Senatsverwaltung für Bildung, Familie und Jugend nicht.
Marco und Sven sind bisher die einzigen öffentlich bekannten Betroffenen, die von Berliner Jugendämtern unter Einflussnahme des Hannoveraner Pädagogikprofessors Helmut Kentler im sogenannten „Kentler-Experiment“ in die Hände eines Pädosexuellen gegeben wurden. Dabei lagen den Berliner Behörden schon jahrelang Belege für Kentlers zweifelhafte Methoden vor, Pflegekinder an Pädosexuelle zu vermitteln – und mit Fritz H. stand der Professor in engem Kontakt.
Der Fall Kentler ist, ebenso wie der mit ihm eng verbundene Fall Fritz H., nicht aufgearbeitet, nicht einmal ansatzweise aufgeklärt. Weder Kentler noch Fritz H. wurden je strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen. Kentler starb 2008, Fritz H. 2015 – das erste, gegen ihn von Marco angestrengte Strafverfahren wurde deswegen eingestellt.
Vergangenen Freitag hat Sven deswegen beim Landgericht Amtsklage gegen das Land Berlin eingereicht. Das Schreiben liegt der Berliner Zeitung exklusiv vor. In Marcos Fall wird noch um Prozesskostenhilfe gestritten. Dennoch übernimmt er die Kommunikation mit der Presse. Sven wühlt das Sprechen über Fritz H. zu sehr auf. Seit Beginn der Prozessvorbereitungen, seit den vielen Gesprächen über Fritz H. und Helmut Kentler, gehe es Sven nicht gut, denke er verstärkt an Suizid, erzählt Marco.
Helmut Kentler wurde in den 60er- und 70er-Jahren als Wegbereiter einer revolutionären, emanzipatorischen Sexualpädagogik gefeiert. Dass der „Pädagogik-Papst“ in seinen Schriften Straffreiheit für Pädosexuelle forderte und Sex mit Kindern als notwendigen Teil einer gesunden Sexualerziehung propagierte, ignorierten seine Anhänger – oder feierten ihn gerade deswegen. Das ist aus heutiger Sicht schwer auseinanderzuhalten. Die Scham vieler seiner Anhänger ist inzwischen groß. Damals war sie es nicht.
1988 berichtete Kentler selbst von seinem „Experiment“ in Berlin – in einem Gutachten, erstellt im Auftrag der Senatsbildungsverwaltung. Kentler schilderte, wie er bereits 1969 sogenannte Trebegänger, also Straßenkinder im jugendlichen Alter, an drei pädosexuelle „Hausmeister“ vermittelte, die vorbestraft waren. Kentler schreibt, dass ihm klar war, dass die Männer „vor allem darum soviel für ,ihren’ Jungen taten, weil sie mit ihm ein sexuelles Verhältnis hatten“. Und: „Es gelang mir, die zuständige Senatsbeamtin dafür zu gewinnen.“ 1989 veröffentlichte Kentler das Gutachten, das die Mitwirkung und -schuld des Landes Berlin belegt, auch in seinem Buch „Leihväter – Kinder brauchen Väter“.
Der Missbrauch war damit öffentlich – doch der Aufschrei blieb aus, ebenso wie eine Strafanzeige oder die kleinste Reaktion der Behörden. Sie setzten ihre skandalöse Praxis stattdessen fort: 1989 und 1991 gab das Jugendamt Schöneberg Marco und Sven in die Hände des vorbestraften Fritz H., bei dem Kentler vor und nach 1988 ungestört als Supervisor fungierte. Kentler beriet den als cholerisch geltenden Pflegevater und stellte ungefragt Gutachten in seinem Sinne aus – was bereits seit Ende der 70er-Jahre aktenkundig bei den Jugendämtern war.
Über wie viele Täter Kentler noch seine schützende Hand hielt, ist unbekannt. Mindestens zwei weitere Männer nennt er in seinem Gutachten, den Behörden aufgefallen sind sie nie.
Exklusive Unterlagen, die der Berliner Zeitung vorliegen, zeigen aber: Marco und Sven sind vermutlich nur die Spitze des Eisbergs. Es sind mehr als 200 Seiten ungeschwärzter Akten und Schreiben von Kentler, Fritz H., Psychologen, Polizisten, Staatsanwälten, Anwälten, den Eltern der Kinder sowie mehr als zehn Mitarbeitern von Sozialdienst und Jugendamt Schöneberg. Die Akten der Jugendämter belegen nicht den Missbrauch, sie erwähnen die körperliche und sexualisierte Gewalt im Hause Fritz H. mit keinem Wort.
Doch sie belegen, wie systematisch die Jugendämter Kreuzberg und Schöneberg ihre Fürsorgepflicht verletzten, über Jahre keine Hausbesuche ausführten, verdächtiges Verhalten von Fritz H. zwar dokumentierten, aber in jedem zweifelhaften Fall ignorierten – ebenso wie die Ämter die wenigen kritischen Stimmen ausblendeten, die sich gegen den vorbestraften, alleinerziehenden Fritz H. als Pflegevater aussprachen.
Dabei war Fritz H., Jahrgang 1941, von Anfang an als Pflegevater wenig geeignet: Dreieinhalb Jahre lang saß er bereits wegen „Tresoreinbruchs“ und „Knacken eines Automaten“ bei der Bundeswehr im Gefängnis, vermerkt eine Akte. Doch das war nicht alles: Vom 7. Januar 1980 – da war die Pflegestelle bei H schon sieben Jahre eingerichtet – liegt ein Brief von der Staatsanwaltschaft in den Akten: „Einstellungsbescheid der StA Berlin, Verfahren 6 Ju JS 1254/79 wurde eingestellt“. Das Dokument liegt der Berliner Zeitung in Kopie vor: „Sehr geehrter Herr H.!“, schreibt die Staatsanwaltschaft. „Das gegen Sie wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs (von Kind) eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.“ Weder vor noch nach diesem Eintrag hat dieser Vermerk in Fritz H.s Pflegeakten irgendeine Konsequenz.
Die Ausmaße des Skandals in der Pflegestelle H. sind wesentlich größer als bisher bekannt: Von 1973 bis 2003, also 30 Jahre lang, nahm H. insgesamt neun Kinder bei sich auf – in der Regel zwei, oft auch drei zur selben Zeit. Die meisten blieben jahrelang bei ihm. Sie wurden von dem Kinderschänder systematisch von der Außenwelt und ihren Herkunftsfamilien abgeschottet.
Marco ist der einzige, der zurzeit die Perspektive der Opfer ergänzen kann, die in den Akten vollständig fehlt. Manche von seinen Pflegebrüdern hat Marco aus den Augen verloren, von anderen weiß er, dass sie nicht über das Erlebte sprechen können oder wollen. Einer sei alkoholabhängig, lebe zurückgezogen im Wald, sagt Marco – und glaube nach wie vor, dass H. seinen Pflegekindern helfen wollte. „Was für ein Arschloch“, sagt Marco. „Total gehirngewaschen.“
Die Blätter räumen auch auf mit weit verbreiteten Irrtümern über das „Kentler-Experiment“: So beschränkte sich der Missbrauch nicht auf die Zeit Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre, wie häufig geschrieben wird – in Fritz H.s Pflegestelle wurden Marco und Sven bis 2003 systematisch manipuliert, missbraucht und vergewaltigt.
Die Kinder waren auch nicht nur 13 oder 15 Jahre alt, wie Kentler selbst in einem Gutachten über sein „Projekt“ schrieb – sondern oft viel jünger. Marco und Sven erinnern sich, dass sie erst fünf Jahre alt waren, als sie zu Fritz H. kamen. Ob das von Kentler so geplant war oder ob Fritz H. hier seinen eigenen Vorlieben nach gab, bleibt offen.
Deutlich zeigen die Akten aber, wie Fritz H. sich aus dem Jugendamt und -heimen Kinder kommen lässt und aussucht, als äße er à la carte. Eine Zusammenfassung der Polizei mit Blick auf die Pflegestelle H. vermerkt zum Beispiel 1985: „Fritz H. ersucht um Vermittlung eines acht- bis zwölfjährigen Kindes“. Oder schon 1973: „H. unterhält langjährigen Kontakt zum Kinderheim Britz, nahm schon in den 70ern von dort Kinder zum Basteln mit zu sich nach Hause“.
Jahrzehntelang konnte Fritz H. offenbar ungestört in Berliner Jugendheimen auf Raubzug gehen. Die Akten dokumentieren, wie er sich immer wieder Kinder aus Heimen, Problemfamilien und von der Straße mit nach Hause nahm – einfach so, ohne dass die Heime oder das Jugendamt Schöneberg intervenierten. Im Gegenteil: Die Mitarbeiter des Jugendamts erklärten ihn in allen zweifelhaften Fällen nachträglich zur Pflegestelle, offenbar ohne kritische Nachfragen zu stellen – obwohl die Kinder da schon Monate lang bei Fritz H. gelebt hatten.
Zum Beispiel im Fall Ahmed, 1979: Hier notiert ein Polizeibericht, dass Fritz H. den Jungen schon zwei Monate bei sich wohnen gehabt habe, bevor er „Antrag auf Aufnahme“ des Kindes stellte. Und: „Ahmed wurde von H. im November 1978 aus Jugendheim in Rudow mit nach Hause genommen“, hält der Bericht fest. „War seit Herbst 1977 im Heim, da Mutter mit ihm überfordert.“
So läuft es immer wieder: Bei Antons Aufnahme in die Pflegestelle 1986 notiert das Jugendamt Wedding überrascht: „Unklar bleibt, seit wann Anton tatsächlich Herrn H. kennengelernt hat. Auf Rat des Herrn H. sollte er die Bekanntschaft anfangs verschweigen, sollte sich auch allein keinen Fragen aussetzen!“
Oder im Fall Marco 1989: Herr M. vom Jugendamt Schöneberg notiert am 20. Oktober, als sei es ein Standard-Bericht: „Vater von Marco will diesen besuchen.“ Nur: Marco war bis dahin gar nicht in der Pflegestelle H. untergebracht. Bis dahin lebte er bei seinen Eltern. Herr M. notiert weiter: Marco habe erhebliche Ängste vor seinem Vater, Fritz H. spreche sich „gegen eine Besuchsregelung aus“. Wie Marco überhaupt zu Fritz H. kam, bleibt ungeklärt.
„Das war ganz einfach“, erinnert sich Marco. Er sei als Fünfjähriger mit Herrn M. und Fritz H. auf dem Jugendamt gewesen. Eigentlich habe er nur zurück zu seiner Mutter gewollt. „Wie jeder Fünfjährige eben.“ Doch Fritz H. habe ihn „gegen seinen Willen“ mitgenommen in seine Wohnung. „Da wurde ich einfach mitgenommen.“ Warum H. überhaupt dabei war, weiß er nicht mehr.
Auch bei Sven, der 1991 zu Fritz H. kam, ist unklar, wie er an Fritz H. vermittelt wird: Er wird im Oktober 1990 am Leopoldplatz von der Polizei aufgegriffen und zum Kindernotdienst gebracht. Verwandte melden sich nicht. Das Kind ist, das verrät ein Bericht des Amts, mit alten Schnittwunden übersät, hat auf der Straße gelebt, Mülltonnen durchsucht und sich mit Hepatitis angesteckt. Er muss erst einmal ins Krankenhaus.
Fritz H. taucht plötzlich im Krankenhaus auf, so erzählt es Sven, sagt Marco, mit einem Malzbier als Geschenk. Der Junge freut sich, mag auch Fritz H. – zunächst.
Fritz H. hat kein größeres Problem mit Svens Hepatitis-Erkrankung, er lässt sich und Marco impfen. „Außerdem sei er interessiert, ob bei dem Jungen ein HIV-Test, und wenn ja, mit welchem Ergebnis veranlasst wurde“, notiert die Klinik am 6. Dezember 1990.
Ende August 1977 kommt Carsten zu Fritz H. Er ist 11, auch seine Mutter ist laut Akten der Behörden „überfordert“. Seit dem September 1974 war der Junge in einer heilpädagogischen Jugendhilfeeinrichtung. Doch er „entweicht regelmäßig“, notiert die Kommissarin. Für Juni 1977: „Integration in Stricherzone am Bahnhof Zoo“. Für August: Carsten „wird bei H. untergebracht“. Schon im September 1977 aber wird Carsten in ein Heim nach Nürnberg verlegt. „Ist auch bei H. weggelaufen“. Carsten ist – vermutlich dank seiner „unkontrollierbaren Entweichungstendenzen“ – der einzige, der dem System Fritz H. in so kurzer Zeit entkommen kann.
„Ein Täter muss sein Opfer im Blick behalten“, sagt Marco. Die Gefahr der Entdeckung, wenn die so lang im Missbrauchssystem gefangenen Kinder in normale Familien entlassen worden wären, habe H. nicht eingehen können. Deswegen habe er, obwohl er mit 13, 14 die sexuelle Lust an den Jungen verlor, engen Kontakt gehalten, weiter Kontrolle ausgeübt. Viele der Jungen, auch Marco, lebten noch bis zur ihrer Volljährigkeit und darüber hinaus bei H. „Mit dem Abstand zu Herrn H. bin ich quasi erst ich geworden“, sagt Marco.
Gerne nimmt Fritz H. sich der harten Fälle an – vermutlich, weil die Ämter froh sind, wenn sie die Belastung los sind, nach einem Betreuungsplatz suchen zu müssen. Marco stand kurz davor, in ein anderes Bundesland gebracht zu werden, weil kein Platz mehr für ihn frei war. Ebenso schwer ist die Vermittlung von Sven, den mit Hepatitis kein Heim nehmen will. Fritz H. bezeichnet das Jugendamt in einer Akte tatsächlich als „Glücksfall“.
Dieser Glücksfall aber beförderte vermutlich einen Todesfall: 1994 nimmt Fritz H. den schwerbehinderten Sascha bei sich auf. H. hat keine Ausbildung als Pfleger, dennoch will er das Kind bei sich haben. Sascha kann kaum reden, er sitzt im Rollstuhl, ist mehr oder weniger bewegungsunfähig. „Der hilfloseste von allen“, sagt Marco. Fritz H. habe nicht mit ihm umzugehen gewusst, hätte sich nicht gekümmert, ihn mit Fertigbrei gefüttert und vollkommen falsch ernährt. Die Pflegebrüder hätten getan, was sie konnten. Doch sei das nicht genug gewesen. Nach sieben Jahren bei Fritz H. stirbt Sascha mit 18 Jahren in der Nacht.
„Anruf von Herrn H., der mitteilt, dass Sascha in der letzten Nacht überraschend verstorben ist“, schreibt ein Herr R. aus dem Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg am 27. September 2001. Und: „Herr H. ist tief betroffen, ebenso Marco und Sven.“ Herr R. ordnet eine Obduktion an, „da der Notarzt ungeklärte Todesursache angegeben hat“. Doch ein Ergebnis der Obduktion fehlt, zumindest in den Unterlagen, die der Berliner Zeitung vorliegen. Auf die Frage, was mit Sascha passiert sei, gibt auch die heutige Senatsbildungsverwaltung keine Antwort, sondern verweist nur auf eine seit Monaten laufende Untersuchung einer Hildesheimer Forschergruppe, die den Missbrauch in der Pflegestelle H. zur Zeit untersuche.
Marcos Stimme wird laut und wütend, wenn er von Sascha spricht: Er sei dabei gewesen. Er habe sich neben Sascha auf den Boden gelegt, nachdem er gestorben sei. „Ich habe ihm noch lange in die Augen gesehen“, sagt er.
Nur ein paar Monate nach Saschas Tod, im Februar und März 2002, bemüht sich Fritz H. erneut um die Pflegschaft eines schwerbehinderten Kindes. Laut Schreiben des Jugendamts Lichtenberg kommt das Kind auch zu Fritz H. Laut Marco trifft es dort aber nie ein.
Alle neun Pflegekinder seien Opfer von H.s sexuellen Übergriffen geworden, sagt Marco. Ohne Ausnahme. Hörbar zieht er an einer E-Zigarette. „Wir waren sein Besitz.“
Jeder hätte ein eigenes Zimmer in Fritz H.s chaotischer, dreckiger, aber geräumiger Wohnung bekommen. Rückten die Kinder zu nah aneinander, hätte H. zur Not im Wohnzimmer eine Trennwand hochgezogen und so ein neues Zimmer geschaffen. Vereinzelung. „Er wollte einen Keil zwischen uns treiben“, sagt Marco. Fritz H. sorgte auch dafür, dass die Stimmung meist gereizt und aggressiv war, stachelte die Kinder gegeneinander auf, sagt Marco.
Einige hätten sich zuerst gefreut, nur um dann festzustellen, dass der Mann, der im Krankenhaus oder beim Jugendamt noch so nett zu ihnen war, sich in ein tobendes Monster verwandelte. Ein Monster, das sie ohne Anlass verprügelte. Ein Monster, das nachts in ihre Einzelzimmer schlich. Ein Monster, das ihnen beibrachte, sich nicht zu bewegen, damit es aussah, als würden sie kuscheln, wenn er sie vergewaltigte. „Kinski“, sagt Marco. „Wie in dem berühmten Ausraster-Video. So war H.“
Immer wieder gerät Fritz H. mit den wenigen Experten aneinander, die in seine Domäne, seine vermeintliche Familie eindringen. Meistens sind es Psychologen, besonders häufig Frauen: Schon im Fall Ahmed rauscht Fritz H. 1979 offenbar heftig mit einer bestellten Gutachterin zusammen, die – als H. eine Sonderpflegestelle beantragt – in Frage stellt, „ob H. den Jungen weiterbringen kann“. H. erkläre Ahmeds Probleme zu seinen, differenziere nicht. Wegen „fehlender Alternativen“ wird H.s Pflegestelle dennoch zugestimmt, nicht aber der besser entlohnten Sonderpflegestelle.
Im Mai 1979 schreibt das Jugendamt Kreuzberg, H. glaube, die Gutachterin sei ihm gegenüber voreingenommen, sie habe „peinliche Fragen“ gestellt. Die Psychologin habe sich bemüht, zu erfahren, ob eine homosexuelle Beziehung zwischen Ahmed und H. bestehe. In zwei Spiegelstrichen steht in dem Bericht: „H. ist empört“ und „H. erklärt, er habe zu Kentler Kontakt aufgenommen“. Im August kündigt H. an, ein Gutachten von Kentler einreichen zu wollen. Die Verbindung zwischen H. und Kentler ist damit bereits 1979 aktenkundig.
Kentler unterstützte H. immer wieder in solchen Krisensituationen: verteidigte ihn mit Stellungnahmen gegen Behörden, gegen misstrauische Therapeutinnen und gegen Eltern, die ihre Kinder wiedersehen wollen.
In diesen Krisensituationen verfasste Kentler unaufgefordert Stellungnahmen und Gutachten für Fritz H., in denen er ihn unter anderem als „pädagogisches Naturtalent“ lobte und empfahl, die Kinder von ihren Herkunftsfamilien ganz fernzuhalten, um ihre Entwicklung, die unter dem Einfluss von Fritz H. doch so große Fortschritte machten, nicht zu gefährden. Und das Jugendamt Schöneberg kam Kentlers Wünschen nach.
Was weiß das Land Berlin? Die der Berliner Zeitung vorliegenden Akten lagern im Bestand der Senatsverwaltungen. Die anderen ehemaligen Pflegekinder von Fritz H., die laut Marco und Sven ebenfalls missbraucht wurden, habe man aber bisher nicht kontaktieren dürfen, so die Senatsbildungsverwaltung, die Behörde verweist auf den strengen Datenschutz bei Pflegeakten und die gerade laufende Studie der Hildesheimer Forschungsgruppe. Den Experten könnte nach Erstellung eines umfassenden Datenschutzkonzepts endlich Einblick in die Akten zur Pflegestelle Fritz H. gewährt werden.
Doch die Hildesheimer Forscher erhalten die Akten wegen der strengen Datenschutzregeln zum Teil mit geschwärzten Namen, dürfen während der laufenden Untersuchung auch keine Auskünfte außer einem Zwischenbericht geben, der im November veröffentlicht wurde.
Die Zuordnung der vielen unterschiedlichen Kinder in H.s Haushalt, das rege Kommen und Gehen, dürfte mit Schwärzungen schwer zuzuordnen sein, argwöhnt Marco.
Viele der Dokumente, die der Berliner Zeitung im Fall Fritz H. vorliegen, lassen den heutigen Leser ungläubig zurück: Auffälligkeit reiht sich an Auffälligkeit.
Wie konnte das Jugendamt nicht misstrauisch werden? Die Akten werfen außerdem, so drängend wie nie zuvor, die Frage auf, ob zumindest einige Mitarbeiter im Jugendamt Schöneberg nicht nur vollkommen versagt, sondern den Missbrauch gedeckt, unterstützt und in den Akten manipuliert haben.
Nur ein einziges Mal wurde gegen Fritz H. wegen schweren sexuellen Missbrauchs ermittelt, und auch gegen Herrn M., den langjährigen Betreuer der Pflegestelle beim Jugendamt Schöneberg. Damals, 2017, hatte Marco einen ersten Versuch unternommen, seinem Peiniger beizukommen. Er reichte Klage ein gegen ihn und den vermeintlichen Mitwisser ein. Doch H. war bereits gestorben – und die Ermittlungen gegen M. blieben ohne Konsequenzen.
Die Staatsanwälte ziehen in ihrem Schreiben zur Einstellung der Ermittlungen, das der Berliner Zeitung vorliegt, zwar nicht in Zweifel, dass es im Fall Marco „zumindest bis zur Vollendung seines 14. Lebensjahres, mithin bis ins Jahr 1996 hinein, zu schwerwiegenden sexuellen Übergriffen bis hin zum regelmäßigen Analverkehr durch den Beschuldigten H. gekommen“ ist.
Sie stellen in dem auf den 28. Mai 2018 datierten Schreiben auch fest, dass aus heutiger Sicht „kaum mehr nachvollzogen“ werden könne, „welche pädagogische Idee die Berliner Jugendämter verfolgt haben, als sie auf Grundlage der ,Expertise’ eines einzigen auswärtigen Sachverständigen, des inzwischen verstorbenen Professor Dr. Kentler aus Hannover, Kinder an alleinstehende Pflegeväter vermittelt haben und sich auf Geheiß des Sachverständigen und der Pflegeväter weitgehend einer Kontrolle der Pflegschaftsverhältnisse enthalten haben.“
Doch: Man könne anhand der Unterlagen des Jugendamtes zum Pflegschaftsverhältnis, „soweit (sie) … aus der maßgeblichen Zeit zur Verfügung standen“, nicht nachweisen, dass Herr M. von dem sexuellen Missbrauch gewusst habe oder daran beteiligt war. Es fehle an „konkreten Anhaltspunkten“. Letztendlich, schreiben die Staatsanwälte, komme es darauf aber auch nicht entscheidend an, da „sämtliche für den Beschuldigten M. in Betracht zu ziehenden Straftatbestände inzwischen verjährt sind“.
Marco und Sven könnten vor Gericht jetzt wieder unterliegen – selbst wenn sie im Recht sind. Schließlich kämpfen sie darum, dass ein Gericht endlich die Rolle der Behörden und die Systematik hinter dem Missbrauch untersucht. Das aber ist schwer zu beweisen. Eigentlich fehlt den beiden auch das Geld für einen Prozess: Sie sind auch mehr als zwanzig Jahre nach ihrem Auszug aus Fritz H.s Wohnung schwer traumatisiert und leben von Sozialhilfe. Vor Gericht vertritt sie ein Anwalt, der pro bono arbeitet. Um die dennoch anfallenden Prozesskosten zahlen zu können, sind sie auf Spenden angewiesen.
Für Sascha, für Ahmed und sogar für Pascal, den „Gehirngewaschenen“, wollen Marco und Sven den Prozess gegen das Land gewinnen. Es ist von Anfang an ein Kampf David gegen Goliath, an dem die beiden Davids zerbrechen könnten. Und dieser Kampf, das Wiederdurchleben ihres Traumas, könnte vergebens sein. Denn das Land wird nach jetzigem Stand Einrede der Verjährung einlegen.
Das teilte die Senatsbildungsverwaltung der Berliner Zeitung am Freitag mit. Auf Bitte der Betroffenen habe Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) veranlasst, dass sich die inhaltlich zuständige Bildungsverwaltung mit der für Amtsklagen auf Ebene der Hauptverwaltung zuständigen Senatsfinanzverwaltung zusammensetze und man gemeinsam prüfe, „ob das Land Berlin auf die Einrede der Verjährung verzichten könne“.
„Das Ergebnis der Prüfung war eindeutig: Das Land Berlin kann aus prozessualen, haushaltsrechtlichen und dienstrechtlichen Gründen nicht auf die Einrede der Verjährung verzichten“, so lautet die Antwort der Bildungsverwaltung auf die Anfrage der Berliner Zeitung.
Für Johannes-Wilhelm Rörig, den Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, darf das nicht sein: Es seien im Land Berlin in der damaligen Zeit Entscheidungen getroffen worden, die unstreitig dazu geführt hätten, dass junge Menschen schwersten Missbrauch erleiden mussten. Er finde das Verhalten des Landes „äußerst bürokratisch verkrampft, wenig fürsorglich, geprägt von mangelnder Empathie, Mutlosigkeit und großer Unsicherheit“. Rörig: „Wenn man sich den Irrsinn des Kentler-Projektes und seine schweren Folgen für die Betroffenen ansieht, hätte das Land Berlin von Anfang an nach einer einvernehmlichen Lösung suchen und diese auch finden müssen“, sagt er.
Jetzt sei das Mindeste, dass das Land auf die Einrede der Verjährung verzichte. Wenn die beteiligten Senatsverwaltungen keine Lösung fänden, „erwarte ich einen Lösungsvorschlag vom Regierenden Bürgermeister Müller“, so Rörig. Ganz unabhängig davon aber erwarte er, dass das Land zahle und Marco, Sven und die anderen Betroffenen des Kentler-Experiments finanziell kompensiere: „Ich sehe das Land Berlin in der Pflicht, dass doch offensichtlich den Betroffenen angetane Unrecht maximal finanziell abzumildern, unabhängig von der Frage einer konkreten individuellen Vorwerfbarkeit.“
Marco fasst das Verhalten des Landes in seine eigene Worte: „Jetzt wollen die mich noch weiter verarschen!“
Berliner Zeitung, Seiten 2 und 3, 7. Februar 2020, online erschienen hier